Suchtpräventions-Workshops für Schüler der neunten Klassen
Die Aufnahme der sogenannten „Gaming Disorder“ als anerkannt klassifizierte Krankheit der Weltgesundheitsorganisation hat 2019 in der Szene für viel Wirbel gesorgt. Exzessives Computerspielen gilt seither offiziell als Suchtstörung. In diesem Fall als eine stoff-ungebundene Verhaltensform mit Abhängigkeitscharakter. Doch die Übergänge sind fließend, und vorschnelle Stigmatisierungen ebenso riskant wie eine Verharmlosung digitaler Hardcore-User, die täglich sechs Stunden und mehr vor dem Bildschirm verbringen.
Seit zehn Jahren findet im Alten Kurfürstlichen Gymnasium regelmäßig Veranstaltungen zum Thema Suchtprävention statt. Lange hatte der Chefarzt der Vitos-Klinik in Heppenheim, Thomas Rechlin, die Workshops geleitet. Auf ihn folgt jetzt Jutta Weikel, die seit November 2017 als Oberärztin und seit Januar 2022 als Leitende Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Vitos Klinikum beschäftigt ist.
Die promovierte Fachärztin ist dem AKG in mehrfacher Hinsicht verbunden: Hier hat sie 1992 selbst Abitur gemacht, heute besucht ihr 16-jähriger Sohn das Gymnasium. Nur mit dem Zocken hat es die Expertin nie gehabt, wie sie am Mittwoch bei ihren interaktiven Vorträgen vor insgesamt rund 150 Schülern der 9. Jahrgangsstufen betonte. Und das nicht nur deshalb, weil die Hardware von damals diesen Namen wahrlich verdient hatte: Klobige Kästen, teure Spiele-CDs und endlose Ladezeiten waren Standard.
Die „Digital Natives“ von heute haben es leichter. Viele Games sind kostenlos online verfügbar, das Herunterladen passiert fix und die sozialen Kontrollschranken in den Ladengeschäften fehlen ebenso wie die Beschränkungen in der Spieldramaturgie – denn fertig ist man nie. Allein das Spiele-Design birgt ein gewisses Risiko, in eine Abhängigkeit zu gelangen, so Jutta Weikel im Blauen Saal der Schule.
Hinzu kommen die verführerischen Belohnungen am Controller: Bei vernetzten Multiplayer-Spielen kann man gegen Kontrahenten weltweit antreten, das virtuelle Ich (Avatar) bietet hohes Identifikationspotenzial, und die Anerkennung in der Community streichelt das Ego der Gamer, von denen viele eine Menge Zeit an PC oder Konsole verbringen. Eine spontane Blitz-Abstimmung in einer AKG-Klasse hat diesen Trend bestätigt. Während Jungs tendenziell eher zu Spielen neigen, springen junge Damen häufiger auf Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Instagram an, so die Psychotherapeutin.
Im deutschen Durchschnitt investieren Jugendliche von zwölf bis 17 Jahren – unabhängig des Geschlechts – an einem Wochenende rund 175 Minuten in Spiele. 196 Minuten lang werden soziale Medien genutzt, 251 Minuten nehmen die Streaming-Dienste ein. Die Daten stammen von einer Analyse der DAK gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Suchtfragen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf im Mai 2021. Laut Studie steigt wie beim Gaming auch bei Social Media die Mediensucht deutlich an. Hier wuchs der Anteil der pathologischen Nutzung seit 2019 von 3,2 auf 4,6 Prozent. Auch hier sind Jungen mit 3,1 Prozent doppelt so oft abhängig wie Mädchen (1,5 Prozent).
Digitale Medien waren und sind für Kinder und Jugendliche weiterhin ein relevantes Mittel zum Umgang mit herausfordernden Situationen. Und dazu hat auch die Corona-Pandemie mit ihren vielen einschränkenden Maßnahmen gezählt. Weitere Ursachen sind purer Zeitvertreib, Spaß am Spiel und Lust am Vernetzen, aber auch Flucht aus dem Alltag, die Überwindung von Einsamkeit und die Jagd nach Glücksgefühlen. Zu den psychosozialen Faktoren einer verstärkten Nutzung gehören Leistungsdruck, mangelnde Anerkennung und ein verarmtes Freizeitverhalten abseits des digitalen Endgeräts.
Es gibt auch positive Aspekte
„Virtual Reality kann zu einem idealisierten Lebensmittelpunkt werden“, betont Jutta Weikel, die im AKG immer nah an ihrem Publikum argumentierte und offensiv den Dialog gesucht hat. Dabei kamen auch die positiven Effekte des Spielens zur Sprache, die manchmal sogar eine therapeutische Zielsetzung verfolgen: Etwa dann, wenn es um Feinmotorik, Wahrnehmung oder eine bessere Auge-Hand-Koordination geht. Auch an der kommunikativen Funktion der sozialen Medien sei grundsätzlich nichts auszusetzen, so die Fachfrau.
Letztlich macht auch in der digitalen Welt die Dosis das Risiko aus. Die Anzahl der User mit Suchtanzeichen steigt. 2020 gab es rund 700 000 Jugendliche mit einer pathologischen Spielsucht. Darunter deutlich mehr Jungs als Mädchen. Die Grenzen zwischen einem riskanten und krankhaften Gaming sind fließend, betont die Referentin.
Kriterien für eine „Gaming Disorder“ sind unter anderen eine übermäßige Beschäftigung, einhergehend mit Kontrollverlust und einer wachsenden Toleranz – so ähnlich wie beim Alkoholiker, der immer mehr trinken muss, bis er einen Rausch verspürt. Der abhängige Spieler macht auch dann weiter, wenn sich aus seinem Handeln Nachteile ergeben, etwa schlechte Noten in der Schule, soziale Isolation oder Müdigkeit durch Schlafentzug. Häufig ist auch eine Priorisierung gegenüber anderen Lebensinhalten und Alltagsaktivitäten erkennbar.
Tipp der Expertin: Eltern sollten sich für die digitalen Gewohnheiten ihrer Kinder interessieren und mit ihnen über Inhalte und Nutzungsdauer sprechen. Das betrifft Gaming ebenso wie die Teilhabe in sozialen Medien. Solche Plattformen reizen Jugendliche durch ein hohes Maß an sozialer Anerkennung durch unmittelbares soziales Feedback (Smiley, Daumen hoch) auf die geposteten Bilder oder Texte. Die „Fear Of Missing Out“ (FOMO) gilt als erste klassische Social-Media-Krankheit. Es geht um das unbehagliche Gefühl, dass man spannende Events verpassen könnte, an denen andere Leute gerade teilnehmen.
Denn beim Scrollen durch den Newsfeed von Instagram, Snapchat und Co. kann schnell die Angst entstehen, dass man zu Hause auf dem Sofa das eigentliche Leben verpasst. Das kann zu Stress, Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen führen. Betroffene von FOMO empfinden es als Notwendigkeit, dauerhaft über die sozialen Netzwerke in Verbindung und informiert zu bleiben. Wer in dieser Absicht andauernd sein Handy checkt, und das sind auch sehr viele Erwachsene, ist zumindest gefährdet.
Wer noch kein Suchtverhalten entwickelt hat, sollte seine Bildschirmzeit bewusst einschränken – oder die Spielkonsole auch mal vom Netz nehmen. „Digital detox“ (digitale Entgiftung), das selbstgesteuerte Abschalten in einer flimmerfreien Offline-Welt kann dazu beitragen, das Verhalten zu reduzieren und grundsätzlich zu hinterfragen.
Im Namen des AKG dankte Sonja Hayer-Lenz der Referentin für die Leitung der Workshops.
Thomas Tritsch